Donnerstag, Februar 14, 2008

Freitag, 21:30 Uhr, Friesenplatz

Gerade ist sie in ihre 2 Zimmer Wohnung eingezogen. Kein Altbau, nein. Ein 70er Jahre Mietshaus in der Moltkestrasse. Vorher hatte sie in dieser WG gewohnt – mit Johannes und Babsi. Sie war heimlich in Johannes verliebt. Das Problem: Babsi auch. Und die hat dann das Rennen gemacht, bevor sie, die Jule, überhaupt eine Regung in seine Richtung machen konnte. Das traf sie hart, doch nie im Leben hätte sie sich etwas anmerken lassen. Naja, und nachdem das junge Glück Johannes Zimmer als Wohnzimmer nutzte, kam sie sich endgültig überflüssig in der WG vor. Und natürlich war sie immer noch in Johannes verliebt. Deshalb räumte sie auch nach wie vor die verdreckte Küche auf und kochte – das kann sie gut – immer noch brav für die beiden mit. Kochten die Beiden, wurde sie noch nicht einmal gefragt, ob sie sich zu ihnen setzen wolle.

„Ich ziehe aus“, Jule hatte sich lange auf diesen Satz vorbereitet. „Wie du ziehst aus? Was soll das denn jetzt?“, Babsi war schockiert und saß auf einem dieser mit Kichererbsen gefüllten Sitzsäcke.

„Naja, es ist doch hier nicht mehr so, wie es war. Wir sind damals zusammengezogen und hatten ne Menge Spass und jetzt...na, jetzt seid ihr zusammen und ich habe das Gefühl, dass ich hier nur noch für die Hauswirtschaft zuständig bin. Ihr seid doch eh nur noch in Johannes altem Zimmer und schließt die Tür ab.“

„Wie stellst Du dir das denn vor, Jule? Wir können die Wohnung nicht alleine halten!“ Babsis Stimme klang leicht zickig.
„Dann müsst ihr Euch halt jemand anderes suchen!“ erklärte Jule.

Das Gespräch endete rasch. Als Jule später an dem Liebesnest der Beiden vorbeikam, hörte sie zufällig wie Babsi sagte „Ich bin froh dass die bald weg ist. Ich konnte sie eigentlich nie richtig leiden – aber sie hat immer so lecker gekocht.“
„Du bist unmöglich, ich find´s schade, wenn sie geht...na ja, zumindest müssen wir uns jetzt ne Putzfrau besorgen, sonst ersticken wir im Dreck“ sagte Hannes.
Jule zog es den Boden unter den Füssen weg.


Und die Worte der falschen Schlange gehen ihr nicht aus dem Kopf. Auch nicht an diesem Freitag Abend, als sie auf dem Rand ihrer Badewanne sitzt und sich die Beine rasiert. Das Bad riecht nach Lavendel. Die Kugeln sind ein Geschenk ihrer Großtante Paula zu ihrem letzten Geburtstag. Sie macht sich zurecht. Mehr als das – sie ist bereit für sämtliche Eventualitäten. Und so schäumt sie sich ein und lässt die Klinge ihre Arbeit verrichten. „Daran soll die Sache nicht scheitern“, denkt Jule mit einem leichten Lächeln im Gesicht, als sie sich mit der Brause abduscht. Beim Abtrocknen sieht sie sich im Spiegel an. Die in letzter Zeit vernachlässigte Bikini-Zone brennt.
Ihre Vorfreude auf diesen besonderen Abend sinkt augenblicklich. Jule ist nicht dürr, aber sie ist auch nicht dick- sie findet sich unvorteilhaft. „Das Licht muss ausbleiben!“ denkt sie sich und gleichzeitig kommt ein trauriges Lächeln über die Lippen. „Was soll schon passieren – es wird eh nichts passieren.“ Von ihren alten Möbeln, die noch Teil Ihres Jugendzimmers in Bergisch Gladbach waren hat sie sich getrennt. Und auch die gebatikten Überwürfe über den abgewetzten Cordsessel ihrer Eltern hat sie aus ihrem Leben verbannt. Sie hat Geld verdient. Sie arbeitet an einem Uni Institut als wissenschaftliche Assistentin. Sie verdient nicht viel, doch es reicht für schwedischen Lifestyle.

Sie wühlt in ihrer Wäscheschublade. Sie wählt die knappste Kombination, die das Sortiment zu bieten hat.
ß
Zeitgleich in der Südstadt. Armin ist total überfordert. Er ist spät dran. Aber das Motherboard und die Platine haben Probleme gemacht. Auch er steht vor seinem Kleiderschrank. Er wühlt hilflos in einem Haufen Stoff rum. Armin studiert Wirtschafts-Informatik. Auch seine Freizeit verbringt er da, wo er sich am besten auskennt: am Computer. Ab und zu schaut er im gegenüberliegenden Haus in die Fenster. Auch jetzt sitzt sie wieder am Küchentisch. So lange wohnt sie noch nicht da. Er fragt sich immer, was sie wohl beruflich macht. Im Sommer ist sie – er saß die ganze Nacht am Rechner – schon um 5:30 Uhr aus dem Haus gegangen. Immer hat sie diese komische Kindertasche um die Hüfte hängen. Wenn sie zuhause ist, sitzt sie gern am Fenster und raucht. Zwischendurch ist sie irgendetwas aus einer roten Tüte – es könnten Salzstangen sein. Vor einiger Zeit hat ziemlich lang so ein Typ bei ihr gewohnt. Der ist jetzt weg. Zwischenzeitlich war auch ein anderer Kerl da – aber der kommt jetzt nicht mehr. Obwohl - neulich war er wieder mal da.

"Nein, das Sweatshirt der Uni-Köln ist wohl eher unpassend für diesen Abend", denkt er sich und zieht die nächste Stofffahne aus dem Schrank. „Ja, das ist ok“ Er zieht sich sein Jeanshemd mit den Perlmutknöpfen an. Armin ist nervös, denn Armin hat ein Date.
Vor knapp zwei Wochen hat er in einem Uni-Chat Jule kennen gelernt. Sie ist gerade umgezogen. Vorher hatte sie in einer WG gewohnt, da gab es aber irgendwie Zoff mit ihren Mitbewohnern. „Gerade umgezogen – vielleicht ist es ja die von nebenan“, die Vorstellung amüsiert ihn. „Nein, ausgeschlossen, Jule wohnt im Belgischen Viertel“. Er und Jule waren sich sofort sympathisch. Sie mailten jeden Tag und dann war es der Vorschlag von Jule sich doch mal zu treffen. „Ok, was schlägst Du vor?“. Armin hatte einen roten Kopf, als er auf Senden klickte. So etwas hatte er noch nie gemacht. Überhaupt hat er mit seinen 29 Jahren nur eine Freundin gehabt. Tanja hat ihn vor ca. 3 Jahren verlassen. Sie sagte, es sei kein Platz für sie neben den Platinen.
„Lass uns doch um 21:00 Uhr am Friesenplatz treffen – vor Starbucks am Eingang zur U-Bahn. Ich steh am Stadtplan. Und dann sehen wir einfach wo wir hingehen.“ Armin war froh, dass Jule die Sache in die Hand nahm. Er hätte gar nicht gewusst, wohin man so geht. Er ging manchmal mit seinen Studienkollegen ins „Ding“. Die Musik gefiel ihm ganz gut. Die spielten viel aus den 80ern – außerdem war der Laden preisgünstig. Der Sekt kostet fünfzig Cent. Armin war sich jedoch sicher, dass es Jule dort nicht so gut gefallen würde.

Jule steht vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Neben ihr türmen sich Hosen und Oberteile. „das ist zu fein, das zu schlampig, hier drin seh´ ich fett aus“, usw, usw. Sie ist verunsichert. Sie will doch alles richtig machen. Sie entscheidet sich für ein neutrales Outfit.
Jeans, Top und ihre Retro-Trainingsjacke. Die hatte sie sich letztes Jahr in Berlin gekauft. Ihr ganzer Stolz. Dazu die Pumas.

Kurz noch den Zerstäuber bedient, einmal, zweimal, bloß nicht aufdringlich. Ein Lieblingsparfum hat Jule nicht. Die Flakons, die auf ihrer Kommode im Schlafzimmer stehen, haben sich über Jahre hinweg angesammelt. Jule ist aufgeregt, liegt aber gut in der Zeit. Sie gießt heißes Wasser über den Beutel – grüner Tee mit Zitrone.

Wie sieht er wohl aus? Ein Wirtschaftsinformatiker. „Hoffentlich hat er nicht so ne dicke Brille“ Jule kicherte. Nein, er hatte sich schon ganz detailliert beschrieben. Gerne hätte sie sich jetzt eine Zigarette angezündet. Vor sechs Monaten hat sie mit dem Rauchen aufgehört.
Ihr Finger drückt auf die Play-Taste des CD-Players: Travis. Zum ersten Mal hört sie auf den Text: „She´s so fine and she wears a black moustache...“ Sie steht auf und geht noch einmal ins Bad. Sie nimmt ihre Oberlippe genau unter die Lupe. „Nein, alles ok“, sagt sie sich, atmet tief durch und macht einen Kussmund in den Spiegel. „Auf geht´s, soll er mal kommen.“


Armin hat feuchte Hände als er mit der Maus den Curser zum Start-Button bewegte: Beenden – Herunterfahren – Aus. Ein letzter Blick in den Spiegel. Armin löscht das Licht und zieht die Tür hinter sich zu. Er ist nervös, sehr nervös. Er findet den Lichtschalter im Treppenhaus nicht. „Hauptsache, ich komme nicht zu spät“, sagt er und blickt auf seine Digitaluhr. 20:45 Uhr. Das ist zu schaffen-locker.
Aus der Haustür raus und nach rechts. Sein Schuh rutscht nach vorne. Ein Gefühl, als hätte er Kernseife unter den Sohlen. „Verdammt noch mal...“ flucht er. „Was ist denn das für eine Scheisse.“ Ja, es ist eine riesengroße Scheiße und zwar die eines Hundes. Er kann es nicht fassen. Jetzt, gerade jetzt muss ihm so etwas passieren. „Das ist bestimmt der Köter von der Tante nebenan. Nur der ist imstande so einen Berg zu produzieren.“ Rex heisst er, der Schäferhund von der Marlies. „Rex, Rex, Rex - da hätte die blöde Kuh ruhig mal kreativer sein können, ach egal, ich bringe sie um - beide“. Armin atmet tief durch, was ihm schwer fällt, da ihm ein übler Geruch in die Nase steigt. Der seines schmutzigen Schuhs.
20:50 Uhr ist es nun. Armin flucht erneut. Der Schlüssel hakt im Schloss der Haustür: Licht an, Treppe rauf, Schuhe aus und Tür auf. Armin besitzt nicht viele Schuhe: die Turnschuhe sind nun hin, die bekommt er so schnell nicht sauber. Er hat noch ein paar schwarze Lederschuhe für die Familienfeste und seine alten Camel-Boots. Die Lederschuhe gingen gar nicht. „Wenn Jule mich mit den Schuhen sieht, ist´s aus.“ Armin blickt die braunen Camel-Boots an. „Vielleicht ein bisschen alternativ, aber bequem.“ Der durch Zeitdruck sehr beherzte Zug an den Schnüren endet im Leeren. Glatter Durchriss des linken Senkels. „Das kann nicht wahr sein. So eine verfluchte Scheisse“, Armin hat das Gefühl, dass sein Kopf jeden Moment wie eine reife Wassermelone zerplatzt. Die Senkel des festlichen Schuhes halten. Als Armin erneut die Strasse betritt ist es 20:55 Uhr. „Ich werde zu spät kommen.“


Jule ist pünktlich. Sie kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen. Im Starbucks am Friesenplatz ist immer noch die Hölle los. „Was trinken die jetzt noch alle Café?“, fragt sich Jule. Rund um das Geländer warten Leute. „Scheint ein beliebter Treffpunkt zu sein. Ein Blick auf die Uhr: es ist 21:05 Uhr. Ihr Blick mustert jeden, der aus der U Bahn mit der Rolltreppe nach oben kommt. Sie würde jetzt gerne rauchen. So wie der Typ, der auf so einem schnöseligen Aluminium-Koffer mitten auf dem Gehweg sitzt. Er telefoniert und schaut sie an. Das Starbucks-Logo spiegelt sich auf der rechten Seite seines Kopfes. „Hoffentlich hat Armin Haare.“ Denkt Jule und wendet ihren Blick ab. Die Wartenden an der U-Bahnhaltestelle Friesenstrasse werden weniger. „Ich geb´ Dir 15 Minuten, Armin, 15 Minuten...“ sagt Jule leise und bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Sein Finger droht zu brechen. So fest drückt er auf den runden Türöffner und versucht den kleinen Lampenring durch Anstarren grün leuchten zu lassen. Aber nichts zu machen. Der Fahrer hat die Tür bereits gesichert. Armin hat die Straßenbahn verpasst.
Armin ist jetzt nicht mehr zu bremsen in seiner Wut. „Scheiss KVB“ schreit er und tritt gegen einen Mülleimer. Der Lederschuh schmerzt. Armin glaubt bereits eine Blutblase zu haben.
„Nächste Bahn in 8 Minuten“ steht da auf der Anzeige.

Es ist 21:10 Uhr. Wie mit Armin verabredet steht sie direkt am Stadtplan. Der Glatzkopf telefoniert immer noch. Jule ist enttäuscht. „Wo steckt der? Beim ersten Date darf man einfach nicht zu spät kommen. Das gehört sich nicht.“

„Nun fahr schon los.“ sagt Armin nervös. Er sitzt in der Bahn. Es ist 21:12 Uhr. Die Bahn braucht 7 Minuten.

„Jule? Jule, bist Du das?“ Sie kann die Stimme nicht auf Anhieb einordnen. „Armi..., ach du bist es Hannes? Hallo." Sie weiss nicht recht, wie sie mit der Situation umgehen soll.

„Wie geht´s Dir Jule?“ fragt er. „Gut. Und selbst?“ fragt Jule leicht unterkühlt. „Auch gut. Ich hab mich von Babsi getrennt. Wohne jetzt alleine auf der Aachener und komme gerade von der Arbeit.“
„Aha“ entgegnet Jule. Ihr hallt immer noch Hannes Putzfrauen-Asnspielung in den Ohren.
„Du, Jule, ich muss mich bei Dir entschuldigen. Ich hab´mich echt scheisse verhalten. Sorry.“

„Ist schon gut, Hannes. Hatte es schon vergessen“ sagt sie.
„Was machst Du denn hier? Bist Du verabredet“ fragt er. „Ich? Nein! Ja! Ach, ich weiß auch nicht. Er kommt wohl nicht mehr.“ Jetzt ist sie vollends verwirrt. Es ist 21: 19 Uhr.

„Das tut mir leid. Hast Du Lust mit mir was trinken zu gehen? Bei mir um die Ecke hat ein neuer Laden aufgemacht. Ist ganz nett“ Hannes schaut sie an.

„Weiß nicht.“ Sie blickt auf die Uhr 21:20 Uhr. „Ja, ok. Wer nicht will, der hat schon“ sagt sie und nickt Hannes zu.

„Dann lass uns die Bahn nehmen. Komm!“ Jule und Hannes gehen nebeneinander die Treppe runter.

Armin springt als erster aus der Bahn. Die Rolltreppe rennt er hoch. Um die Ecke und noch mal hoch. Er rempelt einen jungen Mann an. „Pass, doch auf, du Trampel“ ruft der ihm nach.

„Hast Du das gesehen, Jule?, rennt mich der Idiot fast um!“ sagt Hannes und blickt Armin hinterher. „Ist doch nichts passiert. Wer weiß, vielleicht ist er spät dran.“ antwortet Jule.

Armin sieht sich um. Da steht keine Frau mehr. Jule ist weg.

Vor ihm auf dem Gehweg sitzt ein Kerl auf einem Aluminium-Koffer. Er telefoniert und raucht. „Irgendwie kommt der mir bekannt vor“, denkt sich Armin und geht die Treppe wieder runter.


Es geht los!


Die Idee zu "21:30 Uhr Friesenplatz" hatte ich bereits letztes Jahr. Ich kam mit dem Zug aus Frankfurt und wollte vom Kölner Hauptbahnhof mit der U-Bahn nach Hause fahren. Am Friesenplatz musste ich umsteigen. Just in dem Moment klingelte mein Handy. Der Empfang unter der Erde war miserabel, so dass ich den U-Bahnhof über die Treppe am Starbucks verlassen musste. Und genau dort setzte ich mich auf meinen Koffer und telefonierte. Es war ein längeres Telefonat. Mir fiel auf, dass rund um das Geländer der U-Bahnstation Menschen standen. Vielmehr warteten sie. Allesamt wiesen sie die typischen Anzeichen des Wartenden auf: ein unauffälliger Blick auf die Uhr, ein Zurechtzupfen des Pullovers, ein suchender Blick nach links, einer nach rechts, das hektische Ausdrücken einer Zigarrette gefolgt von der sofortigen Einnahme von Kaugummi...
Und tatsächlich: nach und nach wurden die Wartenden von den Erwarteten erlöst. Nur eine nicht. Eine wartete weiter. Ob sie vielleicht später erlöst wurde? Ich weiß es nicht. Ich habe sie Jule genannt. Das ist ihre Geschichte.

Guten Tag!

Guten Tag!

Ich schreibe gern und ich habe einen Spleen: ich sehe Menschen an. Auf der Strasse, im Büro, beim Sport, in Bars und Restaurants, aus Fenstern, ja auch aus Küchenfenstern. Und bei vielen weiß ich, wer sie sind, wie sie heissen, mit wem sie befreundet sind, was bei ihnen im Schrank steht. Ich weiß es natürlich nicht wirklich, aber in meinem Kopf fügt sich alles zusammen: viele Bilder, tolle Bilder, traurige Bilder. Ich schreibe diese Bilder nieder. Für mich und für den, den es interessiert...

Willkommen am Küchenfenster!